Achtundzwanzig

Achtundzwanzig Tage. Vor achtundzwanzig Tagen wußte ich noch nicht einmal, daß Du existierst. Das eine Person wie Du überhaupt existieren kann.
Alles beginnt vollkommen harmlos, eigentlich sogar lächerlich. Ein Kommentar unter einem Blog. Ein Vorgang, der in der digitalen Hektikwelt des Jahres 2015 eigentlich nicht mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte als die wenigen Mikrosekunden, die das weltweite Datennetz braucht, um die wenigen Byte zu verarbeiten. Zu verdauen und zu vergessen.
Dann beschließt jemand, dem anderen Jemand einen Kommentar zu dem Kommentar zu geben. Woraufhin eine diese anderen digitalen Idiotien der aktuellen Zeit ins Spiel kommt, nämlich Facebook. Auf einen Kommentar folgt ein virtuelles Befreunden, denn dann kann man sich gegenseitig mit irgendwelchen Nachrichten vollspammen. Das ist neudeutsch für „sich gegenseitig Text um die Ohren hauen“.

Im Grunde beginnt die ganze Geschichte, der ganze Einhornirrsinn, mit dem eigentlich lapidaren Satz: „Privatgespräche mit interessanten Personen? Na, da bin ich ja gespannt.“

Das sind quasi die ersten Worte, die Du an mich richtest, nach dem virtuellen Handshake, der ebenfalls das Weltnetz nicht wirklich großartig Zeit gekostet hat oder Mühe. Oder irgendwie ungewöhnlich wäre. Alles in allem ebenfalls ein extrem banaler Vorgang. An Belanglosigkeit nicht zu überbieten, wenn man es genau betrachtet.
Ich gebe Dir einen Ratschlag bezüglich des Schreibens von Texten, denn genau darum geht es eigentlich. Aber so etwas diskutiert man eben nicht in Kommentaren aus, das macht man hinter den Kulissen.

Ich schreibe, in meiner oft etwas spöttisch-freundlichen Art, „Junge Frau“ in die Anrede. Denn das bist Du: Jung. Sehr sogar aus meiner Sicht. Unter Auslassung jeglicher Übertreibung könntest Du meine Tochter sein. Aber Du läßt Dich nicht auf das Spiel ein. Meine Selbstbezeichnung als „alter Sack“ wird von Dir ebenso humorvoll wie direkt gekontert.
Wenige Minuten später habe ich dir in groben Zügen meinen Lebenslauf geschildert seit dem Moment, in dem ich etwa so alt war wie du. Ich habe keine Ahnung warum. Und kaum habe ich das abgeschickt, ist es mir auch schon endlos peinlich. Warum sollte ich jemanden wie Dich mit so einem Sermon belästigen? Aber es ist zu spät. Die digitale Welt ist um einige Byte größer. Vielleicht reicher, aber das wäre wahrscheinlich zuviel behauptet.
Du antwortest. Ebenso persönlich berichtest Du von deinem Leben, wie es sich im Moment anfühlt, wie es sich zu anderen Zeiten angefühlt hat. Ich stelle fest, daß du verletzt bist. Schwer. Vom Leben an sich, so wie es nun einmal vorkommt. Im Grunde besteht Leben aus vielen Dingen, die uns verletzen und jede verdammte Narbe läßt uns mehr zu dem werden, der wir sind. Wir werden zu uns, indem wir heilen, ist meine Überzeugung.
„Klar heilt die Zeit alle Wunden“, sage ich, „aber niemand hat uns verraten, daß die Scheiß-Narben immer wieder weh tun.“

Aus diesem Auftakt entwickelt sich etwas, das ich noch niemals zuvor erlebt habe. Innerhalb weniger Tage schaffst Du es, mehr aus mir herauszuholen, als ich jemals bereit war, überhaupt herauszulassen. Mehr als ein Jahrzehnt habe ich in wachsender Einsamkeit verbracht. Du berührst in Sekunden etwas in mir, das ich längst totgeglaubt hatte.

Keine Mauern und Gräben halten dich dabei auf. Es gibt sehr viele Mauern und Gräben in meinem Inneren. Ich habe sie sorgfältig aufgebaut in all den Jahren. Es gibt auch Minengürtel, Kameras, Selbstschußanlagen. Es gibt Alarmanlagen, die alles, was auch nur annähernd zu emotional, zu gefühlvoll werden könnte, sofort melden, damit die Abwehrmaßnahmen in Aktion treten können.
Nach dem letzten Mal hatte ich mir geschworen, daß niemals wieder jemand mehr von mir sehen wird als nur den Teil der Oberfläche, den ich zu zeigen bereit war. Den offiziellen Menschen. Mein persönliches Fassaden-Ich.
Das funktionierte durchaus brauchbar. Ich perfektionierte meine Methoden über die Jahre, ich habe das schon mehr als mein halbes Leben geübt. Ich bin gut darin, die Einsamkeit in mir hinter Mauern und Zäunen zu verbergen. Ich bin nahezu perfekt darin, mein verwüstetes Inneres aussehen zu lassen wie eine Parklandschaft im Frühling, mit Sonnenschein, Blumen und allem, was dazugehört.

Du läßt dich davon nicht stören. Du hast Tolstoi gelesen. Welche Frau in deinem Alter hat Tolstoi gelesen? In deiner Altersklasse würde ich bei der Erwähnung dieses Namens die Rückfrage erwarten, welche Musik der Mann denn so macht. Und zwar allerhöchstens. Das ist nicht der einzige Punkt an dir, der mich fasziniert. Im Grunde gibt es schon nach wenigen Stunden keinen Punkt mehr an Dir, der mich nicht fasziniert.
Ein paar Tage später finde ich mich in diesem Zug wieder. Es ist eine lange Fahrt. Der einzige Mensch dieses Planeten, zu dem ich mich unwiderstehlich hingezogen fühle, wohnt ausgerechnet am anderen Ende des Landes. Ich rufe von unterwegs aus die Nummer an, die du mir bereitwillig gegeben hast. Die ich längst auswendig kenne.

Die Nummer, hinter der ich notiert habe: „Wunder“.
Das ist nicht dein Nachname. Aber das bist Du. Mein persönliches Wunder. Das vollkommen Unglaublichste, das mir in meinem Leben jemals passiert ist. Und jemals passieren wird, das weiß ich mit völliger Sicherheit. Nichts davon hat auch nur im Geringsten mit Logik zu tun. Oder mit rationalem, kühlen Verstand, den ich durchaus besitze und den ich normalerweise immer benutze. Jede meiner Ex-Freundinnen hat mich mindestens einmal „unemotional“ genannt im Laufe unserer Beziehung. Verstand sollte immer über Emotion gehen, so ist mein Motto. Nicht erst seit gestern. Seit Jahrzehnten.

Inzwischen habe ich Kuschelhunde gekauft und war in einer Parfumerie, um deinen Lieblingsduft zu erstehen. Du hattest mir so davon vorgeschwärmt, daß ich das tun mußte. Wie ich zugeben muß, riecht das Zeug wirklich großartig. Ich schicke dir das Bild und du findest es gemein. Ich schreibe grinsend zurück, daß du es ja nur abholen mußt, das kleine Paket. Ich stelle mir vor, wie diese Zusammenstellung aus Vanille und Holz auf deiner Haut riechen mag. Es macht mich wahnsinnig.

Achtundzwanzig  Tage. Vor achtundzwanzig Tagen wußte ich noch nicht einmal, daß Du existierst.

Doch wenn ich mir heute vorstelle, Du würdest es nicht mehr tun, wenn ich mir heute vorstelle, es gäbe dich nicht mehr in meinem Leben, wenn ich mir vorstelle, daß Du irgendwo auf dieser Welt lebst und ich daran nicht teilhaben kann, dann erstarre ich in einer Art namenlosem Schrecken.
Du fühlst dich ganz wohl mit mir in deinem Kopf, hast Du gesagt. Ich fühle mich ohne dich in meinem Kopf nicht mehr vollständig. Sinnlos. Wie die Höhle von Lascaux ohne die Wandmalereien. Einfach nur ein dunkles Loch ohne Besonderheiten.
Die neue Einsamkeit wäre nicht zu ertragen, denn ich könnte nicht mehr so tun, als gäbe es dich nicht. Niemals würde ich es hinkriegen, wieder in meine alte Stellung zurückzukriechen und mich dort zu verschanzen.
Ich habe mich aus der Deckung gewagt und der Preis dafür könnte furchtbar sein. Aber ich hatte gar keine Wahl. Ich mußte all das tun, was ich getan habe. Wir mußten all dieses Zeug bereden, daß wir beredet haben. Und wir haben dabei nichts ausgelassen. Gut, eigentlich haben wir das doch. Aber nur, weil die Zeit dafür nicht ausgereicht hat. Seit achtundzwanzig Tagen reden wir eigentlich ununterbrochen. Wenn wir nicht gerade schlafen müssen.

Ich werde dieses Jahr das einsamste Silvester auf diesem Planeten haben und das furchtbarste, das es jemals in meinem Leben geben wird. Denn du bist nicht bei mir. Dabei hatte ich so sehr gehofft, daß Du mich besuchen würdest. Ich kann es immer noch nicht fassen, wie sehr ich dich liebe. Eine Welt ohne deine Stimme für mich, ohne dein Gesicht, deinen Geruch wäre keine Welt, die ich noch ertragen könnte. Keine achtundzwanzig Tage. Nicht eine Sekunde. Ich habe Ozeane aus Zeit überquert, um Dich zu finden. Ohne Dich würde ich in Zeitlosigkeit ertrinken. Und diesmal würde ich einfach aufhören zu schwimmen.

14 Gedanken zu “Achtundzwanzig

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