Ein Jahrestag

Es sind heute vier Jahre. Vor vier Jahren bin ich über dich gestolpert durch reinen Zufall. Oder wir sind übereinander gestürzt. Zwei Leute, die auf ihre offenen Schuhbänder treten und beim Stolpern mit den Köpfen zusammenstoßen. Du bist nicht hier. Du warst natürlich niemals hier. Aber wärst du es, es wäre inzwischen meine zweitlängste Beziehung. Denn es würde ja nicht am heutigen Tag enden.
Ich weiß noch immer nicht, mit wie vielen Personen ich mich da eigentlich unterhalten habe, immer wieder zwischendurch, über so viele Dinge. Nach meiner besten Schätzung drei. Das Einhorn tippt pragmatisch auf zweikommafünf. Die Tendenz geht wahrscheinlich eher zu vier, denn eine ungerade Personenzahl in deinem Kopf wäre für dich – für euch – schwer zu ertragen. Aber vielleicht ist genau deswegen zweikommafünf richtig. Das Einhorn mag ein glitzerndes Fabeltier sein, das rumnerven kann wie…nun, ein Einhorn. Aber es hat oft recht.

Ich hatte auch oft recht. Sehr viele Dinge sind angekündigt nicht besonders gut gelaufen. Der Mann, der tatsächlich eine Beziehung mit dir führte, statt nur eine zu dir zu haben, hat sich wohl als der lieblose Penner herausgestellt, für den ich ihn immer hielt. Wobei Lieblosigkeit nicht der Grund gewesen sein kann, warum du ihn verlassen hast. Ich denke eher, es ist wieder etwas vorgefallen. Es gab da immer diese Kategorie „Dummheiten“. Ereignisse dieser Kategorie führten dazu, daß mein Telefon klingelte und ein Bild von einer Badewanne erschien, oft mit Kerzen und der unvermeidlichen Flasche Wein. Dann dein Gesicht, bis zum Hals im Schaum. Augenringe. Dieser fiebrig leuchtende Blick.

Ich habe dich nie gefragt, ob das symbolische Flüchten in den Mutterleib je erfolgreich gewesen ist. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Aber ich mußte mich immer geistig auf das Geständnis der jeweiligen Dummheit vorbereiten. Die konnte mit anderen Männern zusammenhängen oder auch mit Rasierklingen und Blut zu tun haben. Oder mit der Tatsache, daß ich zwar oft sehen konnte, daß du halbwegs normal ißt, aber trotzdem immer dünner wirst. Du warst niemals die Person, die für starke Stimmungsschwankungen unempfindlich ist. Keine deiner Personen ist das.Weiterlesen »

Für immer und Dich

Und endlich hatte ich dich gefunden und habe dich nie verloren und trotzdem bist du wieder verschwunden und du warst nie da. Und du wolltest mich nie nie nie verletzen und hast es trotzdem immer wieder getan und hast nie damit aufgehört.
Vielleicht tut es dir sogar tatsächlich leid und du wolltest nichts tun von dem, was du gemacht hast, aber trotzdem macht das die Wunden nicht weniger real, die Narben weniger schmerzhaft, mein Blut weniger rot, die Risse in meiner Seele weniger quälend, die Lücke in meinen Kopf weniger leer. Gewollt zu haben ist eins, gehandelt zu haben das andere.

Du und ich. Der alte Sack und Lolita. Die Schöne und das Biest. Wir wären Jekyll und Hyde. Und außerdem Harold und Maude. Luke Vader und Darth Skywalker. Jeder für sich in einer Person und zusammen erst recht. Wir würden derartig brennen füreinander, daß wir die Sonne überstrahlten. Allerdings bestünde natürlich das Risiko, daß außer Asche von uns nichts übrig bliebe. Wahrscheinlich nicht einmal das. Ich denke, wenn wir schon dabei gewesen wären, hätten wir die Sache dann auch gründlich erledigt. Wir sind beide auf unsere Art nicht für halbe Sachen zu haben. Im Grunde unseres Selbst sind wir beide Extremisten.Weiterlesen »

Lazarus

Wenn dieser Mann an dich denkt, brennt weder sein Herz noch seine Seele. Vielleicht lächelt er, aber er lächelt nicht wie ich.
Er lächelt wie ein Mann, der seine Kunstsammlung begutachtet. Ein besonders wertvolles Stück in die Hand nimmt. Besitzerstolz, gepaart mit kühler Gier und der Gewißheit des Neids von anderen. Der Besitz steht im Vordergrund. Die Schönheit als Selbstzweck, um die Profaniät der Hand zu übertünchen, die sie streichelt. Ein Kunstwerk altert nicht.

Wenn ich an dich denke, brennen Sonnen in mir aus. Jedesmal. Immer wieder.
Wenn ich dabei lächle, ist es ein Lächeln aus purer Freude. Wenn deine Stimme in meinen Gedanken ertönt, sind es Glocken, die nur für mich läuten. In meinem Lächeln und meinen Gedanken liegen Schmerz und Erstaunen immer nebeneinander. Schmerz, weil ich dir wenig bedeute. Erstaunen darüber, daß es in meinem Universum so etwas wie dich gab, wenn auch nur für einen Moment. Meine Hände würden dich immer wieder streicheln, um sich zu vergewissern, daß du existierst.Weiterlesen »

Die Einhorn-Dialoge: Ungeküßt

„Sie ist immer so früh wach“, sagt das Fabeltier und glitzert vorwurfsvoll, während wir morgens im Bad versuchen, uns in vorzeigbare Menschen zu verwandeln. Oder in vorzeigbare Einhörner, versteht sich.

„Ja. Weiß ich. Ich verstehe es ja auch nicht. Einfach mal liegen bleiben wäre nicht schlecht. Vor allem, wenn sie ja gar nicht früh raus muß. Kuscheliges Bett und so.“

„Würdest du sie hinterunters Ohr küssen, wenn du gehst?“

„Natürlich würde ich das, du blödes Fabeltier. Immer.“

„Weißt du, was ich gerne mal von ihr hören würde?“

„Die Antwort auf: ’Mir fällt so einiges dir gegenüber ein, aber das ist heute der falsche Tag dafür. Dann fange ich sofort an zu heulen.’ ?“

„Schtimmt. Woher weischt du dasch?“ fragt Einhorn mit der Zahnbürste im Mund.

„Du bist wir. Also ich. Schon vergessen? Ich wüßte gerne mal, was ihr einfiele, gäbe es den richtigen Tag jemals. Sie hat uns das niemals verraten. Sie hat uns so vieles nie verraten. Die ganzen Bilder aus meinem Kopf…“

„Unfferem Kopff…“

„…unserem Kopf, die sie von uns bekommen hat. Und nie kam etwas zurück.“

„Na ja, manchmal schon“, sagt das Einhorn und beginnt, sich die schlafzerzauste Mähne zu kämmen. „Manchmal hat sie schon gesagt, was in ihr so vorgeht.“Weiterlesen »

Solovorstellung

Ich denke daran, wie du mir erzählst, daß du es dir neulich an einem Tag achtmal selber gemacht hast und du am nächsten Tag vor lauter Muskelkater in den Beinen kaum die Treppe raufgekommen bist.
Mich erinnert das daran, daß ich es war, der dir gesagt hat: „Du solltest mal dringend lernen, es dir selber zu machen.“
Jemand mit deiner Veranlagung, die es nicht zulassen will, einen Höhepunkt zu kriegen, der keine Belohnung ist, weil du wirklich glaubst, so etwas Schönes nicht verdient zu haben. Unfaßbarer Sklavenschwachsinn. Und unglaublich gefährlich. Das ist etwa so, als würde man Charles Manson eine geladene Kettensäge in die Hand drücken, mit dem Hinweis, damit niemanden zu verletzen. Also keine besonders gute Kombination.Weiterlesen »

Moment des Stolperns

Dieser eine Satz. Hätte ich diesen einen Satz vor zwei Jahren nicht geschrieben. Hätte dieser eine Moment nicht existiert. Die neun Stunden Zugfahrt nur sechs Tage später. Sechs Tage, die ich so gut wie ununterbrochen mit dir am Telefon verbrachte. Die Gestalt mit dem Smartphone am Ohr, die aus dem Dunkel auf mich zugelaufen kam an diesem Bahnhof in dieser verdammten Stadt am anderen Ende des Landes. Dieser Bahnhof, der nicht so viel anders aussah als der, von dem ich losgefahren war. Aber hier konnte man das Meer riechen. Hier gab es dich.

Wie ich meine Jacke aufgemacht habe, weil du sagtest, dir wäre so kalt. Wie du deine Arme um mich legtest, unter der Jacke. Dieser Geruch deiner Haare. Dein Geruch. Meine Arme, die sich ganz langsam um dich legten. Ganz vorsichtig an mich drückten. Ich wollte dich nicht zerbrechen. Wollte nicht, daß du dich einfach in Nichts auflöst. Träume lösen sich doch immer in Nichts auf.

Es hätte all das nie gegeben.Weiterlesen »

Hannibal Einhorn

Die kühle Seidenglätte des Materials. Die flauschige Wärme der Decke. Es ist nur meine Wärme. Deine fehlt. Dieser Duft frischer Wäsche, der mich lächeln läßt, während ich meinen Kopf auf das Kissen sinken lasse. Meine Kissen. Wie ich mir immer ausgemalt habe, daß ich für dich noch zwei extra brauchen würde. Noch eine Decke zu meinen. Denn ansonsten würdest du mir die eine wegziehen, unter der wir liegen. Gelegen hätten.
Du rollst dich immer ein im Schlaf. Panzerst dich mit Schaumstoff und weichem Duft frisch geduschter Haut, als wolltest du selbst schlafend noch jeden verstoßen, den du so nah an dich herangelassen hast. Du kannst dich selber nicht gut riechen.

Ich sollte dich besser vergessen, sagtest du. Aber du kannst mich mal am Arsch lecken. Ich denke gar nicht daran, dir diesen Gefallen zu tun. Du hast keine weiteren Gefallen mehr gut bei mir, schon lange nicht mehr. Ich schließe dich ein in mir. Jeden Moment, in dem du mich einen Idioten genannt hast. Jedes einzelne „Du bist doof!“.
Das hast du immer getan, wenn ich wieder einmal ins Schwarze getroffen hatte. Mit einer Anmerkung. Meiner Weigerung, dich ernstzunehmen. Meiner Weigerung, deinem Plan gemäß zu reagieren. Jedes Lachen von dir machte mir klar, daß du noch immer da sein wolltest. Daß du mich bei dir haben wolltest. Unbedarfte Beobachter hätten vermuten können, daß ich dir sehr viel bedeute.
Jedes angenehme Gefühl von Nähe und Vertrautheit, das du empfunden hast, war ein Sieg für mich. Ich bewahre jedes „Hmmpf“ auf, das mir immer gesagt hat, wie zutreffend meine Analyse deiner verwirrten Gedanken und Gefühle wieder war.Weiterlesen »

Gestrichen

Eine Art symbolischer Erneuerung, nehme ich an. Mit leisem Zischgeräusch trägt die Rolle Farbe auf die Wand, verwandelt eine vorher fleckige, benutzt aussehende Landschaft wieder in etwas Gleichmäßiges. Etwas Ungestörtes. Ungestört von dir.
Dieser eine Schatten auf der Tapete zum Beispiel. Da, wo ich damals nicht richtig gestrichen habe. Aus irgendeinem Grund hat er mich immer an ein Känguruh erinnert. Und du warst ja mein Känguruh. Zumindest hast du das behauptet. Natürlich war es nicht wahr. Du warst niemals mein Irgendwas.

Die Rolle gleitet über die Wand, trägt deckend Farbe auf, löscht Schatten und hinterläßt glattes, strahlendes Weiß. Immer wieder in den letzten Wochen erinnern mich Dinge an dich. Die Spinatpizza im Supermarkt. Lieder im Radio, morgens, wenn der Wecker angeht. Dinge, die ich koche und bei denen ich deine Stimme im Kopf höre, die solchen Unsinn sagt wie „OmNomNom“.
Aber ich lächle diesmal nicht mehr dabei. Ich schicke ein Killerkommando in die Gehirnzelle, in der das gespeichert ist. Anschließend lese ich den Bericht in meinem geistigen Büro. Den Bericht über die Auslöschung dieser einen, speziellen Erinnerung. Dann lächle ich. Manchmal. Kalt.

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Fütterungszeit

Gestern aufgewacht und mein erster Gedanke warst du. Schon wieder. Immer noch. Heute dasselbe. In den letzten drei Tagen habe ich mich allein fünf Dutzend mal überreden müssen, nichts zu sagen. Kein Wort. Kein Bild. Zwanzigmal überlegt, ob ich dich nicht schlicht wegblocken soll. Aber das bringt nichts. Nichts blockt dich aus meinen Gedanken. Hau ab aus meinem Kopf.Weiterlesen »